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íslenska

Das Glitzern der Heringsschuppe in der Stirnlocke. Ein isländisches Familienporträt

Das Glitzern der Heringsschuppe in der Stirnlocke. Ein isländisches Familienporträt
Author
Óskar Árni Óskarsson
Publisher
Transit
Place
Berlin
Year
2011
Category
German translations


The book Skuggamyndir úr ferðalagi in German translation by Betty Wahl. Publisher: Transit.



About the book:



Óskar Árni Óskarsson unternimmt eine Fahrt durch Island, immer auf den Spuren seiner Familie, seiner lebenden und toten Verwandten. Ohne Pathos, in präziser, knapper Sprache wird deren Leben zu einem privaten und gleichzeitig typischen Bild isländischer Biographien verwoben: es geht um Fischfang (»Arbeit im Fisch«), um Schafzucht, um Krankheit, Hunger, Einsamkeit, Liebe, Auswanderung, Sehnsucht und Rückkehr. Es geht aber auch um Lebenswillen und Lebensglück, so in der Geschichte eines schwer erkrankten Jungen, dem unter entsetzlichen Qualen ein Bein amputiert wird. Er überlebt, bekommt eine hölzerne Prothese, wird ein geübter Schwimmer und ein über alles geschätzter Liebhaber der Fischarbeiterinnen – daher die »Heringsschuppe in der Stirnlocke«!



From the book:



Der winter 1917/18 war hart, in Siglufjörður nicht anders als überall sonst im Land. Der Fjord war vollkommen zugefroren, so dass auf dem Seeweg keinerlei Versorgung zu erwarten war. Stefanía hatte gerade erst das Salzhaus verlassen und war hinunter an den Strand gezogen – und zwar keinen Tag zu früh, denn kurz darauf wurde das Haus von den Eisschollen in Stücke gerissen, und die Armen strömten herbei und holten sich die zersplitterten Planken zum Feuermachen. Ihre neue Behausung war geringfügig besser, aber auch dieses Haus war einmal ein Vorratsschuppen für Heringstonnen und Salzfässer gewesen. Die Wohnung befand sich unter dem Dach, die Bodendielen waren morsch und schadhaft, die Türen und Fenster allesamt undicht. Stefanía versuchte, die Ritzen mit Stofffetzen und Zeitungspapier zu stopfen, damit der eiskalte Wind kein allzu leichtes Spiel hatte.



Es waren schlimme Zeiten für alle, die dort wohnten, doch ihre Kinder blieben von Skorbut und anderen Krankheiten immer verschont. Von der Langanes-Küste im Nordosten hatte sie das ein und andere Wissen mitgebracht, was mit der Zubereitung von Speisen zu tun hatte und in Siglufjörður bis dahin unbekannt war, und es ist nicht auszuschließen, dass sie so manches von den Indianerfrauen abgeguckt hatte, während der zwei Jahre, die sie als junges Mädchen in Kanada war.



Die meisten Leute in Siglufjörður lebten damals in ärmlichsten Verhältnissen, wie eine Episode aus dem Buch Isländische Heldinnen veranschaulicht: »In diesem Winter besuchte mich eines Tages eine Frau, die ich nur flüchtig kannte, von der ich aber wusste, dass sie verwitwet war und einen fünf oder sechs Jahre alten Jungen zu versorgen hatte. Es war kurz vor der Mittagszeit, also bot ich ihr an, mit uns zu essen. Sie setzte sich mir gegenüber an den Tisch, und ich werde niemals den Anblick vergessen, den sie bot, als sie anfing zu essen. Die Zähne hingen allesamt lose im Gaumen  und schienen ihr beim Kauen jeden Moment aus dem Mund zu fallen. Das Zahnfleisch war dick geschwollen und blutig entzündet, aus ihren Mundwinkeln rann das Blut in schmalen Rinnsalen, und der faulige Gestank, der sie umgab, war so stark, dass mir beinahe übel wurde. Sie erzählte mir, ihr Junge sei ans Bett gefesselt, so schlimm seien die Frostbeulen an seinen Füßen. Auch sie selbst, sagte sie, liege die meiste Zeit des Tages im Bett und ziehe sich nur an, um in die Küche zu gehen, und dann oft nur, um sich einen Kaffee zu kochen.«



Und so etwas war gewiss kein Einzelfall, denn Hunger und Krankheit lauerten überall. In jenem Winter half Stefanía in so mancher Familie aus und kümmerte sich um die Kranken. Abends las sie den Kindern vor und brachte ihnen die Buchstaben bei, auch wenn sie dann oft schon einen langen Arbeitstag hinter sich hatte. Ab und zu steuerten ihre Kinder etwas Haushaltsgeld bei, hauptsächlich Árni, ihr Ältester, der damals schon ganztägig arbeitete, obwohl er kaum aus den Kinderschuhen raus war.



Die Öre, die der Jüngste hinzuverdiente, kamen dem Haushalt dagegen nur selten zu gute, denn die wurden meist direkt in Süßigkeiten umgesetzt. Diese Einnahmen erzielte er unten am Hafen, wo er die Männer dazu animierte, ihn an den Ohren hochzuheben, und für jedes dieser Kunststückchen ein Zehnörestück kassierte. Seine großen, abstehenden Ohren legten davon lebenslang Zeugnis ab, und mit Hüten hatte er immer seine Probleme.



(21-23)


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